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Ein Manifest für Humanismus in der Mitte Europas 

Pavel Kohout erhält deutsch-tschechischen Kunstpreis

Der tschechische Schriftsteller und Dramatiker Pavel Kohout steht am 22.10.2014 im Rahmen seiner Ehrung mit dem Kunstpreis zur deutsch-tschechischen Verständigung im Rathaus in Chemnitz (Sachsen). Mit dem Preis wurde unter anderem gewürdigt, was Kohout für das deutsche Theater in Prag getan habe. Der Kunstpreis zur deutsch-tschechischen Verständigung wird seit 1994 verliehen. Foto: Hendrik Schmidt/dpa | Verwendung weltweit, © dpa-Zentralbild

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Am 5. Januar 2020 wurde nach dreijähriger Renovierung die Staatsoper in Prag mit einem Galakonzert wieder eröffnet. Der bekannte Schriftsteller Pavel Kohout hat für den Eröffnungsabend ein Essay verfasst. Das Manifest für Humanismus in der Mitte Europas können Sie hier lesen. 

Am 5. Januar 2020 wurde nach dreijähriger Renovierung die Staatsoper in Prag mit einem Galakonzert wieder eröffnet.Auf den Tag genau 132 Jahre früher, am 5. Januar 1888, öffnete das Gebäude als „Neues Deutsches Theater“ erstmals seine Türen. Der bekannte Schriftsteller Pavel Kohout hat für den Eröffnungsabend ein Essay verfasst. Darin lässt er die vergangenen Jahrzehnte Revue passieren – stets unter dem Aspekt des Zusammenlebens der tschechischen, jüdischen, deutschen und deutschsprachigen Kultur, das Prag nicht nur in kultureller Hinsicht maßgeblich geprägt hat. Zugleich ist der Text ein Manifest für Humanismus in der Mitte Europas:


Pavel Kohout: Essay zur Eröffnung der Prager Staatsoper am 5. Januar 2020

Mein Gott, was war das für eine Stadt, Prag im 19. Jahrhundert? Die Tschechen, gerade erstarkt durch ihre Wiederauferstehung, die von der Geschichte belehrten Deutschen, dazu tschechische und deutsche Juden mit tausendjähriger Erfahrung in ihren Genen. Dieses schicksalhafte Triumvirat erreichte mit technischer Unterstützung von Dampf, Gas und Elektrizität seinen Höhepunkt, als die erfolgreiche Zivilisation ihren Geist schuf – und damit ihre Musen. Deren Tempel, auf Deutsch Gesamtkunstwerk genannt, in dem sich alle Musen treffen, um den höheren Prinzipien des Seins zu dienen, war und ist immer das Theater.

II

1783 ging der Vorhang der Bühne von Graf Nostitz auf. Sie wurde weltberühmt, als Mozart seine Oper Don Giovanni für sie komponierte. Nach seinem großen Erfolg soll er den Satz gesagt haben: „Meine Prager verstehen mich!“ – und damit sowohl Deutsche als auch Tschechen gemeint haben. Bald wurde das Theater von den Böhmischen Ständen gekauft und Ständetheater genannt. Die erstarkenden Tschechen öffneten nach 100 Jahren ihre „Goldene Kapelle“. Die Entscheidung, ein noch größeres Theater zu errichten, sollte eine würdige Antwort der deutschen und jüdischen Bürger sein. Prag schuf sich damit eine eigene internationale künstlerische Konkurrenz.

Das Neue deutsche Theater war ein Werk der Österreicher Fellner und Helmer, die in der Monarchie und anderswo schon Dutzende Theater gebaut hatten. Eröffnet wurde es 1888 mit Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg. Berühmte Europäer pflegten hier die Musik der Klassiker und Moderne. Dem Schauspiel kam eine besondere Rolle zu: Die hiesige Bühne beherbergte die ganze Welt der deutschen Sprache – Schauspieler aus Österreich und Deutschland kamen hierher, um eine einheitliche Theatersprache zu pflegen. Sie erhielt den Namen Prager Deutsch.

III

1914 wurden die Musen vom Großen Krieg niedergeschrien. Nach der Niederlage der Monarchie entstand die Tschechoslowakei mit sieben Nationen. Das Ständetheater wurde von tschechischen Künstlern besetzt, die deutschen stärkten ihr Theater. Die Oper erlebte Sternenstunden mit Autoren wie Strauss, Zemlinsky oder Janáček, auf der Bühne waren die besten Stimmen zu hören. Mit dem Antritt des Nationalsozialismus im Reich begann die Verfolgung der Juden und Demokraten. Prag wurde zu einem Kap der Hoffnung, bot Schutz, die Möglichkeit zu schaffen und vielen auch die Staatsbürgerschaft.

Die meisten Mitglieder des tschechischen Nationaltheaters und des Neuen deutschen Theaters verbündeten ihre Kräfte zur Verteidigung der Demokratie. Doch das Versagen der Regierungen von England und Frankreich – das Münchner Abkommen – öffnete Tür und Tor für die Nationalsozialisten. Die erst vor kurzem gekommenen Emigranten emigrierten in die Schweiz, wo sie in Zürich frei weiterspielen konnten. Die restlichen deutschen Künstler grüßten ebenso wie die tschechischen mit der ausgestreckten Rechten, um spielen und leben zu können. Sechs Jahre führte der Tod Regie. Der totale Krieg schloss die Vorhänge in ganz Europa. Als sie wieder aufgingen, war nichts mehr wie zuvor.

 

IV

Der Krieg war krepiert, Frieden aber gab es nicht. Europa hasste die Deutschen so sehr, dass es auch Bach und Beethoven schmähte! Die Juden ausgerottet, die Deutschen vertrieben, von den drei Kulturen blieb die tschechische, die lernte, ohne die inspirierende Reaktion der Verschwundenen zu leben. Dieses Palais erhielt zu Ehren des Prager Aufstands den Namen Theater des 5. Mai. In den ersten drei Jahren gab es eine Epoche einer Anknüpfung an die Avantgarde. Ihre Stars, der Komponist Hába, der Dirigent Kašlík, der Regisseur Radok und der Bühnenbildner Svoboda behielten ihren festen Platz im europäischen Theaterhimmel. Danach wurde der Gesellschaft jedoch der Maulkorb des totalitären Regimes aufgesetzt.

Das Theater musste seine Namen und die Leitung wechseln, die Musen mussten unter die Aufsicht des Regimes, verstummten aber nicht gänzlich. Im Kampf mit der Zensur hatten die Künstler Erfolge, gekrönt von der Welturaufführung der Óper von Bohuslav Martinů Mirandolina und später seiner Griechischen Passion. Unermüdliche Versuche die Grenzen der Unfreiheit zu durchbrechen führten zu Gastspielen der Opernhäuser aus London, Berlin und Wien. Dann fiel die Berliner Mauer und mit ihr das gesamte totalitäre Regime.

 

V.

Vierzig Jahre sind weniger als eine Sekunde in der Geschichte der Menschheit, für einen Einzelnen aber oft das ganze Leben. Zwei Generationen von Tschechen mussten sich der Gewalt unterordnen oder zur Freiheit erwachen. Letzteren brachte auch dieses wunderschöne Haus Sicherheit und Mut. In jener Zeit empfing es zwölf Millionen Zuschauer, um ihren Geist zu erheben, indem es sie an die verwehrten Werte und den großen Wunsch sie zurückzuerhalten erinnerte. Das Haus wechselte seine Namen und Ensembles, aber nicht seine Botschaft: nach und nach die Kruste des dumpfen Nationalismus zu durchbrechen und sich der Hauptströmung der Menschheit anzuschließen, der immer nach Frieden und Freiheit strebte.

Jetzt konnte sich die Bühne endlich unter dem Namen Staatsoper Prag an ihre Wurzeln aus der Zeit des deutschen Humanismus und an ganze Generationen von ebenso aufgeklärten wie mutigen Schöpfern erinnern. Viele der einst berühmten Inszenierungen wurden nach langer, langer Zeit wieder in das Repertoire aufgenommen und das Haus öffnete sich der Welt ebenso, wie es das Neue deutsche Theater in seinen besten Jahren getan hatte.

 

VI.

Die Erfahrung ist unübertragbar, auch die Kinder von Weisen müssen sie selbst erlangen. Regelmäßig verdummen die Völker und wiederholen alte Fehler. Diese Nicht-Erfahrung kann überwunden werden, es reicht sich vorzustellen, wie traurig unser Leben im nationalen Hinterhof wäre, umzäunt von Stacheldraht, unter dem Kommando von oft unfähigen oder zu allem fähigen Wächtern, ohne das Bewusstsein, dass offene Grenzen für die Machtsüchtigen der größte Dorn im Auge sind. Die offenen Grenzen verbinden uns mit unserem Europa, dessen Staaten in der Union gegenseitig über alle Grundfreiheiten wachen.

Die Staatsoper stimmt heute Abend laut in das Ensemble der Prager, tschechischen und europäischen Kulturinstitutionen mit ein. Mit Spitzenleistungen kommen natürlich auch niedere menschliche Eigenschaften wie Eifersucht, Händelsucht, Egoismus oder Intoleranz und der damit verbundene Zank und Streit. Große künstlerische Körper reifen aber gerade durch ihre Überwindung – ohne taktlose Eingriffe von außen! Teure Musen, bleibt bei der Staatsoper, bewacht sie, schützt sie, inspiriert sie!

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