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Wir wollen verhindern, dass Menschen, die arbeiten, in Armut geraten
Interview von Mladá Fronta Dnes mit Botschafter Christoph Israng und dem französischen Botschafter Roland Galharague am 16. März 2020. Vor einem Jahr unterzeichneten Frankreich und Deutschland den neuen Élysée-Vertrag.
Der neue Élysée-Vertrag betrifft viele Themen, von der Verbindung der Grenzregionen und Sprachunterricht über den Austausch von Regierungsmitgliedern bis zu gemeinsamen strategischen Zielen. Botschafter Christoph Israng (CI) und Botschafter Roland Galharague (RG) sprachen mit der Tageszeitung Mladá Fronta Dnes.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland bislang?
RG: Es ist erst ein Jahr her, aber wir haben schon viel erreicht. Zusammen hatten wir den Vorsitz im Vereinten Nationen-Sicherheitsrat, das planen wir auch dieses Jahr wieder. Ebenso gibt es einen Austausch auf der Ebene von Ministern der Regierung. Noch wichtiger ist die gemeinsame Diplomatie. Wir haben eine Allianz für Multilateralismus gegründet, der auch Tschechien angehört, es ist uns gelungen Verhandlungen über einen Waffenstillstand in Ukraine zu vermitteln. Deutschland engagiert sich mit unserer Hilfe in Libyen, in Berlin haben wir ein Balkan-Gipfeltreffen ausgerichtet, an dem die Bundeskanzlerin Merkel und der französische StaatspräsidentMacron teilnahmen... Das ist überhaupt nicht wenig.
Welche Themen aus diesem weiten Bereich sind für Sie die wichtigsten?
CI: Neben der Sicherheits- und Außenpolitik ist es die Funktionsweise und Zukunft der EU.
Reformen und die Zukunft der Funktionsweise der EU waren ein großes Thema von Emanuel Macron nach seinem Antritt. Er ging davon aus, mit Deutschland zusammenzuarbeiten, Deutschland zögerte jedoch. Warum?
CI: Staatspräsident Macron brachte einen sehr innovativen und dynamischen Plan zur Reform der EU. Allgemein können wir sagen, dass die Regierungen von Frankreich und Deutschland ein Interesse daran haben. Es handelt sich jedoch um einen Prozess, der mit allen Mitgliedstaaten rechnen muss.
Bleibt Deutschland also bei seinem langsameren Tempo?
CI: Wir wollen ein Gleichgewicht finden zwischen den ambitionierten Partnern einerseits und andererseits dem, was sich die übrigen EU-Mitgliedstaaten und ihre Bürger wünschen.
RG: Macrons Vorschläge sind nicht ganz neu, schon der damalige deutsche Außenminister Fischer hatte vieles davon in seiner Grundsatzrede an der Humboldt-Universität im Jahr 2000 genannt. Damals hatte Frankreich geschwiegen. Ich bringe dies als Beispiel, weil wir immer noch daran denken müssen, dass wir zwei unterschiedliche Länder sind, die zusätzlich unterschiedliche Situationen in ihrer Innenpolitik haben. Dennoch: wenn wir uns die einzelnen Punkte der Rede von Macron vor zwei Jahren an der Sorbonne erinnern, konnten einige davon schon umgesetzt werden oder sind zumindest auf dem Weg. Natürlich könnten wir schneller vorgehen. Aber ich sage, wir müssen Beschränkungen aufgrund der politischen Lage beider Länder berücksichtigen.
Die Bürger selbst sollen in die EU-Reformen eingebunden werden. In den nächsten zwei Jahren wird es eine sog. Konferenz über die Zukunft Europas laufen, bei der im Rahmen von öffentlichen Diskussionen und Umfragen Anregungen von EU-Bürgern gesammelt werden. Was erwarten Sie davon?
RG: Die Regierungen unserer Länder sind sich einig, dass die Beteiligung der Bürger an jeglichen Änderungen von grundsätzlicher Bedeutung ist, wenn wir eine starke und funktionierende Union haben wollen.
Eine ähnliche gesamteuropäische Diskussion gab es bereits vor kurzer Zeit, das wichtigste Ergebnis war die Aufhebung des Wechsels von Sommer- und Winterzeit. Erwarten Sie jetzt mehr?
RG: Die neue Diskussion wird eine ganz andere Qualität haben. In der früheren ging es um Beratungen mit den Bürgern, ihre Meinung zu verschiedenen Fragen wurde ermittelt. Jetzt möchten wir weitergehen: Jeder kann konkrete Vorschläge machen, wie die Reformen aussehen sollten, einschließlich von Gesetzesvorschlägen. Das ist eine Gelegenheit, wie man nicht nur seine Meinung sagen und Unzufriedenheit Ausdruck geben kann, sondern auch eine Möglichkeit, wie Einzelne, Gruppen oder Verbände konstruktiv zu Veränderungen beitragen können.
In der EU gibt es in der Wirtschaft immer noch ein Ungleichgewicht, große Unterschiede im Mindestlohn der einzelnen Staaten. In Tschechien beträgt er umgerechnet 3,50 €/Stunde, dreimal weniger als in Frankreich oder Deutschland. Es ist von einem Ausgleich die Rede, ist das realistisch?
CI: Der europäische Mindestlohn wird ein wichtiges Thema unserer europäischen Ratspräsidentschaft sein. Wir möchten einen Rahmen für die Berechnung eines Mindestlohns schaffen, von dem man im gegebenen Staat wirklich leben kann. Er kann nicht in allen Staaten die gleiche Höhe haben. Aber es ist möglich eine einheitliche Formel zur Berechnung des Mindestlohns zu haben, der die realen Lebenshaltungskosten berücksichtigt.
RG: Niemand möchte den Staaten vorschreiben, was sie tun sollen. Wir wollen verhindern, dass Menschen, die arbeiten, in Armut geraten, weil ihr Lohn zum Leben nicht reicht. Dieses Problem betrifft eine Reihe von Staaten in Europa. Wir sprechen hier nicht von Sozialfällen, aber von arbeitenden Menschen, die Lohn erhalten, und dennoch an oder unter der Armutsgrenze leben. So etwas geht doch nicht. Darüber sprechen wir mit den Gewerkschaftsverbänden in verschiedenen Ländern und z. B. in Tschechien sind die Gewerkschafter dem sehr zugeneigt.
Wann könnte das fertig sein?
CI: Ein großes Stück Arbeit wollen wir schon während der deutsche Ratspräsidentschaft schaffen, d. h. in der zweiten Jahreshälfte.
RG: In die Praxis könnte dieser Rahmen noch in der Zeit der aktuellen EUKOM eingeführt werden, d. h. in den kommenden fünf Jahren.
Deutschland hat ein Klimapaket verabschiedet, Emanuel Macron überlegt ein Referendum darüber, welche Maßnahmen getroffen werden sollen, die neue EU Kommission hat einen ambitionierten Klimaplan vorgestellt. Wird etwas davon funktionieren?
CI: In erster Linie ist zu sagen, dass die Klimakrise ein Fakt ist. Dies sieht man auch in CZE: lange Trockenheit...
RG: Borkenkäfer...
CI: Oder kein Schnee in Prag in diesem Winter. In der Zukunft werden wir dies noch stärker spüren. Zum Beispiel durch erhöhte Migration aufgrund der Klimakrise. Wir müssen handeln. Einige sagen zwar, das habe keinen Sinn oder die anderen verschmutzen die Umwelt noch mehr und machen nichts dagegen. Aber wir können ein Beispiel sein. Zum Glück ist Europa nicht der einzige, der etwas tut. Wenn wir erneuerbare Energien (EE) sehen, so sind an verschiedenen internationalen Programmen ungefähr einhundert Staaten beteiligt, das ist nicht wenig. Zudem ist die EU der drittgrößte Verursacher in der Welt. Und wir haben Instrumente, wie wir das ändern können. Der europäische und auch der deutsche Klimaplan sind zwar sehr ambitioniert, aber gleichzeitig realistisch. Wir müssen auch Nebeneffekte beim Übergang zu umweltfreundlicherem Verhalten in Betracht ziehen, z. B. den Verlust des Arbeitsplatzes. Aber die Veränderungen sind notwendig.
RG: Dem stimme ich voll zu. Zudem funktionieren die Klimaschutzmaßnahmen. Z. B. einigten wir uns im Pariser Klimaabkommen über eine Senkung der CO2-Emissionen um 20 % und kommen jetzt an 24 %. Der Übergang zu umweltfreundlichen Energieträgern ist eine Gelegenheit zur Transformation der Wirtschaft. Viele von uns sind der Ansicht, dass wir uns am Beginn der vierten Industrierevolution befinden. Diese wird auf EE und digitalen Technologien beruhen. Es wird erwartet, dass der Übergang zu EE zudem viele neue Arbeitsplätze schafft, eine Zahl von 300.000 bis 700.000 wird genannt. Zudem sind das Arbeitsplätze, die nicht in billigere Länder im Ausland verlagert werden können. Umweltmaßnahmen sind ein absolutes Muss. Es geht um das Überleben unserer Art.
Die Deutschen sind zu ökologischen Maßnahmen auch zum Preis von eigenen Einschränkungen bereit, die Franzosen gingen hingegen auf die Straße, als die Regierung die Kraftstoffsteuer erhöhen wollte...
RG: So unterschiedlich ist die Situation in unseren Ländern gar nicht. Die am schnellsten wachsende Kraft in Frankreich sind die Grünen, immer häufiger protestieren Menschen auch für einen besseren Klimaschutz. Ja, lange haben wir Proteste der Gelbwesten erlebt. Und das ist eine Sache, die wir berücksichtigen müssen. Weil die Änderungen am Ende die Ärmsten am meisten treffen. Auch damit rechnet die europäische Klimapolitik.
CI: Wir wissen, dass der Übergang zur neuen Wirtschaft umfangreiche Reformen erfordert. Und wir rechnen damit, dass die Schwächsten Hilfe brauchen werden.
Braucht Europa eine eigene Armee, oder kann es sich voll auf die NATO verlassen?
CI: Es ist wichtig für uns, die europäische Verteidigungsfähigkeit und die Rolle Europas in der Welt zu stärken. Aber wir sollten dies nicht auf Kosten der USA oder außerhalb der NATO tun, sondern im Rahmen der NATO und zusammen mit den USA als unserem wichtigsten Bündnispartner außerhalb Europas. In diesem Bündnis müssen wir jedoch die europäischen Verteidigungsausgaben erhöhen.
RG: Es stellt sich nicht die Frage, ob wir ein neues Verteidigungsbündnis brauchen, sondern ob wir fähig sind, im Notfall zu handeln und uns zu verteidigen. Wir sollten auch mehr in die Rüstungsindustrie investieren, Frankreich und Deutschland tun dies schon. Wir sollten auch mehr bei militärischen Einsätzen zusammenarbeiten, auch das ist schon in den Anfängen. Und wir müssen fähig sein, unseren Standpunkt mitzuteilen und zu Problemlösungen einheitlich vorzugehen. Solange wir nicht von innen wirklich stark sind, wird uns die Welt nach außen hin nicht als starke Allianz wahrnehmen.
Ist die NATO stark genug?
RG: Es ist nicht wichtig, ob die NATO als eine gute Maschine funktioniert, sondern ob sie eine klare Strategie hat. Und daran bestehen Zweifel. Ich nehme an, dass auch dies ein Grund war, den deutschen Verteidigungsminister dazu zu bewegen, ein strategisches Audit zu fordern. Auch die fraunzösiche Regierung wollte so etwas. Wir werden sehen, was sich daraus entwickelt. Die Strategie der NATO war nämlich in der letzten Zeit nicht ganz klar, ähnlich wie die Haltung einiger NATO-Staaten. Blicken wir nach Syrien, wo die NATO nicht eingegriffen hat, einzelne Mitgliedstaaten waren jedoch im Rahmen der Bündniskoalition aktiv. Wir haben an der Seite der Kurden gegen den IS gekämpft. Und dann stellt sich einer unserer NATO-Partner gegen die Kurden. Welche Strategie gibt es also?
Wir haben über viele Themen gesprochen, die die EU lösen muss. Ist es ein guter Einfall, zu einer solchen Zeit neue Länder aufzunehmen, die nicht gerade ein Vorbild für Stabilität sind?
CI: Im Jahr 2003 haben wir in der EU entschieden, den Westbalkan-Ländern die Möglichkeit einer zukünftigen Mitgliedschaft zu geben. Albanien und Nord-Mazedonien haben in dieser Zeit viele Reformen durchgeführt. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Die deutsche Regierung unterstützt die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit diesen zwei Ländern.
RG: Es ist gut, die EU in dieser Region zu erweitern. Nicht nur, weil wir es versprochen haben. Es stärkt die Stabilität der EU und unseren Einfluss dort. Zunächst müssen wir aber den Aufnahmeprozess verbessern, damit er auch für die dortige Bevölkerung verständlich ist. Jetzt ist es so, dass Verhandlungen aufgenommen werden, sie warten 15 Jahren und zwischendurch passiert nicht viel. Wir wollen einen mehr schrittweisen Prozess. Vorteile der zukünftigen Mitgliedschaft sollen schon „auf dem Weg“ dahin genutzt werden können, nicht alles auf einmal am Ende wie jetzt. Die Bewerberländer können diese Vorteile aber auch wieder verlieren. Wir wollen den bürokratischen Prozess zu einem übersichtlicheren Vorgehen ändern. Der Vorschlag für ein solches Verfahren liegt bereits bei der EU-Kommission.
Hing also die ablehnende Haltung von Staatspräsident Macron zur Aufnahme dieser Länder mit technischen Fragen und nicht mit diesen zwei konkreten Ländern zusammen?
RG: Macron war nicht der einzige. Mindestens zwei weitere Länder waren gegen eine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen und weitere versteckten sich in aller Stille hinter dem Rücken von Frankreich. Da ging es nicht nur um Technikalien, sondern um den Prozess, der im Laufe der Zeit nur noch bürokratisch war und die politische Vision verloren hatte. In diesen Ländern verstand niemand mehr, was passierte. Gleichzeitig hinderte die Annäherung an die EU diese Länder überhaupt nicht daran, umfangreiche Abkommen mit Russland oder China zu schließen. Wo war damals ein europäischer Einfluss? Wir wollen, dass die Ergebnisse und politischen Vorteile auch den Menschen in diesen neuen Ländern verständlich sind. Wenn sie z. B. ein Beitrittskapitel abgeschlossen haben, sollen sie die damit zusammenhängenden Vorteile schöpfen können. Wenn sie im Kapitel Rückschritte machen, verlieren sie sie wieder. Damit erhalten die Beitrittsverhandlungen wieder ihr Transformationspotential, das unserer Meinung nach im Laufe der Zeit verloren gegangen ist.
Roland Galharague
Französischer Botschafter in Prag seit 2015, zuvor Botschafter in Ungarn. War u.a. an den Botschaften in Großbritannien und USA tätig. Absolvent der École normale supérieure, des Weiteren auch Studium von Deutsch und Russisch.
Christoph Israng
Seit August 2017 deutscher Botschafter in Prag. Bis dahin ständiger Vertreter von Deutschland in der OPCW in Den Haag. Doktortitel in Wirtschaftsgeografie, Universität Bonn.