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Erinnerungen von Botschafter a.D. Hermann Huber

Der deutsche Botschafter Hermann Huber (M) am 05.10.1989 in der Prager Botschaft

Der deutsche Botschafter Hermann Huber (M) am 05.10.1989 in der Prager Botschaft, © picture alliance / AFP | AFP

Artikel

DDR-Flüchtlinge in der Botschaft 1989

Erinnerungen von Botschafter a.D. Hermann Huber
(1930-2018, Botschafter in Prag 1988-1992)


Eine historische Aufarbeitung der Ereignisse, die zur deutschen Wiedervereinigung geführt haben, wird die dramatischen Vorgänge im Spätsommer und Herbst des Jahres 1989 in Prag nicht außer Acht lassen können, als Tausende von Flüchtlingen aus der DDR Zuflucht in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland suchten. Der im August 1989 plötzlich einsetzende Ansturm auf die Botschaft war nicht nur von der Dimension her ein Novum, sondern stellte auch qualitativ eine völlig neue Situation dar, mit der es galt sich auseinander zu setzen. Sie kumulierte schließlich am 3. November 1989 in einer Ausreiseregelung, die den eisernen Vorhang und die Berliner Mauer obsolet werden ließ. Dieses Faktum scheint mir in bisherigen Dokumentationen zur deutschen Einigung zumindest unterrepräsentiert, soweit es überhaupt Erwähnung findet.

DDR-Flüchtlinge hat es in unserer Prager Botschaft immer gegeben, seit wir das Palais Lobkowicz bezogen hatten. Vor meinem Dienstantritt als Botschafter in der ČSSR im November 1988 wurde ich mit diesem Umstand in Bonn vertraut gemacht. Im Übrigen führte mich eine Dienstreise schon im Dezember 1984 nach Prag, als die Botschaft bereits einmal eine größere Welle von Flüchtlingen - es waren bei meiner Ankunft etwa 160 - zu versorgen hatte. Das Problem war mir also nicht fremd. Im Innerdeutschen Ministerium (BMB) war ich auch in die Geheimnisse des Freikaufs und die Rolle eingeweiht worden, die Rechtsanwalt Dr. Vogel in diesem Zusammenhang spielte.

Als ich am 17. Dezember 1988 dem damaligen Staatspräsidenten Husák mein Beglaubigungsschreiben überreichte, gab es keine DDR-Flüchtlinge in der Botschaft. Erst im Februar/ März 1989 stellten sich die ersten Zufluchtsuchenden ein, die entweder über den rückwärtigen Botschaftszaun auf unser Gelände gekommen waren, oder denen es auf andere Weise gelang, die strenge Wache der tschechoslowakischen Miliz zu überlisten, die jeden Besucher kontrollierte. Wir brachten sie im Dachgeschoß der Botschaft unter, das als Notquartier ausgebaut worden war, versorgten sie mit Lebensmitteln und schalteten, wie üblich, das BMB ein.

In den folgenden Monaten bewegte sich die Zahl der Zufluchtsuchenden, die sich gleichzeitig in der Botschaft aufhielten zwischen etwa fünf und dreißig Personen, je nachdem wie schnell und gut die Verhandlungen zwischen BMB und Rechtsanwalt Vogel liefen. Im einzelnen bedeutete dies für die Flüchtlinge, dass sie versehen mit gewissen Zusagen von Vogel die Rückreise in die DDR antraten und dort einen regulären Ausreiseantrag stellen konnten, der ihnen in der Regel die Ausreise in die Bundesrepublik nach mehreren Monaten ermöglichte. Keine Ausreisegenehmigung erhielten Straftäter nach DDR-Recht und Personen, die sich durch die Flucht der Wehrpflicht entziehen wollten. Gleiches galt sog. für Geheimnisträger.

Da es uns richtig und wichtig erschien, die tschechoslowakischen. Behörden in gewissem Umfang einzubinden, unterrichteten wir den Leiter der im Außenministerium für uns zuständigen Abteilung von Zeit zu Zeit über die Anzahl der Zufluchtsuchenden in der Botschaft, ohne freilich Namen zu nennen. Dies fiel uns umso leichter, als wir überzeugt sein konnten, dass unsere Mitteilungen für das Außenministerium keine Überraschungen enthielten.

Mit dieser Situation, d. h. einer ständig wechselnden Anzahl von Zufluchtsuchenden, die sich aber im Rahmen dessen hielt, was wir mit Bordmitteln gut bewältigen konnten, mussten wir leben.

Das eigentliche „Flüchtlingsdrama“ begann Mitte August 1989.

Am 17. August erhielt ich in der Schweiz, wo ich meinen Urlaub verbrachte, einen Anruf vom Auswärtigen Amt und die Weisung, möglichst umgehend nach Prag zurückzukehren, da sich in der Botschaft etwa 70 Flüchtlinge aus der DDR aufhielten. Die Tendenz sei steigend.

In der Tat waren es bei meinem Eintreffen, zwei Tage später, bereits 123 Personen, die offenbar ohne allzu große Schwierigkeiten den Botschaftszaun überwunden hatten. Dies war erstaunlich und stand in gewissem Gegensatz zu dem, was wir von früher gewohnt waren. Offensichtlich waren die strengen Anweisungen der tschechoslowakischen. Miliz gelockert worden.

Wie war das möglich geworden? Um die geänderte Situation zu verstehen, muss man sich die politische Lage vergegenwärtigen, in der sich das Prager Regime damals befand: Glasnost und Perestroika hatten die Führung unter Husák und dann Jakeš zutiefst verunsichert, im Volk besaß die Führung längst kein Vertrauen mehr. Seit 1968 hatte sich die Mehrheit der Tschechen und Slowaken in eine Art innere Emigration zurückgezogen. Rund 500 000 Parteiausschlüsse hatten nach dem Prager Frühling für etwa 2 Millionen Menschen sozialen Abstieg und nicht selten finanzielle Not bedeutet. Dieses Potential stellte für das Regime ein ständiges Trauma dar.

Im Januar 1977 war die sog. Charta 77 ins Leben gerufen worden, deren Anhänger zwar scharf verfolgt wurden - Präsident Havel saß bekanntlich insgesamt mehr als 5 Jahre im Gefängnis - die man aber aufgrund ihrer flexiblen Strukturen und auch wegen des internationalen Prestiges ihrer Anhänger nicht eliminieren konnte. Nach dem Besuch Gorbatschows im April 1987 zeigte sich ein leichtes Nachlassen des inneren Drucks. Es gab zwar noch genügend administrative Schikanen, um die Bevölkerung gefügig zu machen.

Aber es zeigte sich auch, dass die Führung in eine gewisse Orientierungslosigkeit verfiel, weil offenbar die Moskauer Direktiven ausblieben. Ein enger Schulterschluss mit der DDR, die man im Grunde nicht schätzte, lag in dieser Situation nahe und zeigte sich später auch bei der politischen Handhabung des deutschen Flüchtlingsproblems. Die dabei allerdings auffällige tschechoslowakische Inkonsequenz war wohl eine Folge des Versuchs, einerseits die sozialistische Solidarität mit der DDR zu demonstrieren, andererseits aber auch die guten, vor allem wirtschaftlichen Beziehungen zur Bundesrepublik nicht zu gefährden.

Soweit also in kurzen Worten das politische Umfeld, in dem sich das sicher größte Flüchtlingsproblem zusammenbraute, das eine deutsche Botschaft bisher erlebte und das, wie ich meine, nicht unwesentlich zur Destabilisierung der DDR beitrug und ihren Zusammenbruch mitverursachte. Mit dem plötzlich erfolgten rapiden Anstieg der täglichen Neuzugänge – die Zahlen bewegten sich zwischen 20 und 50 Flüchtlingen – war uns klar geworden, dass die uns bislang bekannten logistischen Probleme eine völlig neue Dimension angenommen hatten. Von den Zufluchtsuchenden wussten wir, dass man in der DDR die Furcht hegte, Honecker würde nach den für Herbst anstehenden Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR die Grenzen auch zur ČSSR schließen – dem einzigen Land, in das DDR-Bürger ohne Visum reisen durften. Unter diesen Umständen mussten wir uns auf noch wesentlich höhere Flüchtlingszahlen einrichten.

Auf Weisung des Auswärtigen Amts wurde die Botschaft am 23. August für den Publikumsverkehr geschlossen. Diese Maßnahme versuchten die tschechoslowakischen Behörden sogleich gegen uns zu verwenden, indem sie anzweifelten, dass die Botschaft noch funktionsfähig sei. Die Absicht, die hinter solchen Schachzügen steckte war evident. Wir beeilten uns daher, für unsere Konsularabteilung Ausweichquartiere in einem Hotel einzurichten.

Sodann wurde die dadurch freigewordene Orangerie der Botschaft in Schlaf- und Aufenthaltsräume für die Flüchtlinge umfunktioniert. Am 24. August erteilte mir Minister Genscher die Erlaubnis, Zelte und zusätzliche sanitäre Anlagen im Park aufzustellen. Beides hatte die Botschaft bereits angefordert, so dass wir schon am 25. August 6 große Zelte aufstellen konnten, in denen zunächst 60 Flüchtlinge bequem Platz fanden. Eines dieser Zelte diente als Schulzelt. Meine Frau kaufte in Weiden/ Oberpfalz. Schultüten, so dass wir pünktlich am 1. September die Erstklässler „einschulen“ konnten. Unterricht erteilten als Lehrerinnen ausgebildete Ehefrauen von Botschaftsangehörigen.

Aber nicht nur für solche Tätigkeiten wurden die Ehefrauen um Mithilfe gebeten: Täglich mussten weit mehr als 1000 Visa erteilt werden. Je enger der Platz in der Botschaft wurde, desto schwieriger gestaltete sich diese Arbeit. Also erklärten sich viele Ehefrauen bereit, die Arbeit zuhause zu erledigen und die Pässe täglich zur Unterschrift dann in die Botschaft zu bringen. Meine Frau brachte es täglich auf bis zu 200 eingeklebte Visa. Die Solidarität aller Botschaftsbediensteten und ihrer Familien war in diesen schwierigen Tagen eines meiner großen Erlebnisse.

Wir begannen nun in erweitertem Umfang Bestellungen von Lebensmitteln, Büchsen aller Art Kaffee, Tee und dergl. zu tätigen. Dabei war uns klar geworden, dass bei weiter steigender Tendenz unsere bisher praktizierten Versorgungsmodalitäten nicht beibehalten werden konnten. Noch immer kauften nämlich Ehefrauen, Kolleginnen und Kollegen frische Lebensmittel in Prag, die wir lediglich zum Teil durch Nudeln etc. aus der Bundesrepublik ergänzten. Der Botschaftsbus fuhr jetzt allerdings täglich nach Furth im Wald, wo wir vor allem Gemüse, Unmengen von Bananen, Sportgeräte, Spielsachen und ähnliches einkauften.

Auch in der Bundesrepublik war inzwischen natürlich unsere Situation bekannt geworden. Zahllose Päckchen mit Schokolade, Spielsachen, Büchern usw. wurden uns über unsere Adresse in Furth i. W. zugesandt. Noch hatte jedes Zelt seinen eigenen Elektrokocher, auf dem die unterschiedlichsten Mahlzeiten gekocht wurden. Dies führte zu einer Art Kochwettbewerb zwischen den Zelten und diente der Ablenkung. Gelegentlich musste ich Schiedsrichter spielen.

Mehr und mehr zeigte sich die qualitative Änderung in der Zusammensetzung der Flüchtlinge. Während früher bei vielen die Bereitschaft bestand, gegen Zusagen von Rechtsanwalt Vogel die Botschaft zu verlassen, zeigte sich jetzt mehr und mehr eine militante Haltung, die darauf abzielte, das DDR-Regime zu Zugeständnissen zu zwingen. Sie wollten unmittelbar in die Bundesrepublik ausreisen. Da sich nichts in dieser Hinsicht bewegte, drohten einige mit Hungerstreik. In aller Höflichkeit entschuldigten sie sich bei mir, dass sie mir dies antun müssten, aber sie wollten auf diese Weise die Weltöffentlichkeit auf ihr Schicksal aufmerksam machen. Der Zeitpunkt der Leipziger Messe scheine ihnen geeignet zu sein. Es gelang mir nach langer Diskussion, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Aber ich war mir natürlich über die Brisanz der sich immer mehr zuspitzenden Situation im Klaren.

Anfang September schlug das Wetter um, es regnete in Strömen und der Botschaftspark verwandelte sich in eine Schlammwüste. Über die in jeder Hinsicht sehr hilfreiche Standortverwaltung der Bundeswehr in Weiden erhielten wir durch Vermittlung unseres Militärattachés Munitionspaletten, die wir als Zeltböden nutzten. Auch Lebensmittel aller Art, Schlafsäcke und warme Kleidung kamen auf diesem Weg. Natürlich konnte all das nur in zivilen Lastwagen transportiert werden, die jedoch niemals Probleme hatten, die Grenze zu überqueren.

Am 11. 9. melde ich dem Auswärtigen Amt 434 Zufluchtsuchende. Der bevorstehende Besuch von RA Vogel, wird mit einer gewissen Spannung erwartet. Er traf am 12. 9. mit seiner Frau, Rechtsanwalt Dr. Gregor Gysi und einem weiteren Anwalt aus der DDR in der Botschaft ein. In dem 3-stündigen Gespräch mit den Flüchtlingen erweiterte Vogel seine bisherigen Zusagen um wesentliche Punkte, bestand jedoch weiterhin auf Rückkehr in die DDR, zur Bearbeitung der jeweiligen Ausreiseanträge. Auf der Grundlage dieser Zusagen verließen etwa 280 Personen die Botschaft. Rund 170 weigerten sich, das Angebot von Vogel zu akzeptieren. Ihr Durchschnittsalter betrug etwa 28 Jahre. Nun hatten wir wieder etwas Luft.

Allerdings währte dieser Zustand nur kurze Zeit. Am 24. 9. waren schon wieder 865 Personen in der Botschaft. Wir räumten weitere Büros, entfernten Sträucher im Park, Schulunterricht konnte nur noch in reduziertem Maß für die 1. und 2. Klasse erteilt werden.

Die Stimmungslage sank von Tag zu Tag. Immer wieder musste ich auch eingreifen, wenn Flüchtlinge glaubten, ein Mitglied der Stasi im Lager enttarnt zu haben. Auf Dauer war auch die im Interesse der Flüchtlinge bisher verfolgte restriktive Pressepolitik nicht mehr durchzuhalten. Ständig beim Außenministerium durchgeführte Demarchen, auch um Ausweichquartiere zu erhalten, führten zu keinem Ergebnis. Man bot uns nur an, die Zugänge verschärft zu bewachen, was wir natürlich sofort zurückwiesen. Im Übrigen zeigte sich eine gewisse Hilflosigkeit. Man wisse schon, dass man am Ende im Regen stehe und sei nicht bereit die deutsch-deutsche Suppe auszulöffeln.

Inzwischen hatten wir Unterstützung durch das Deutsche Rote Kreuz erhalten. Die Botschaft war bei der ständig ansteigenden Zahl von Flüchtlingen schlicht überfordert, die Versorgung mit Bordmitteln zu garantieren. Die Zusammenarbeit mit dem DRK war hervorragend. Die Einsatzleiterin, Frau Schroeder, selbst Vorsitzende der DRK Sektion Schleswig Holstein, sprach alle Fragen von Bedeutung mit mir ab. Sie war buchstäblich Tag und Nacht auf den Beinen. Ich fürchtete oft, dass sie die Strapazen physisch auf Dauer nicht durchstehen würde. Natürlich hatte das DRK Ärzte mitgebracht, auch vom Gesundheitsdienst des Auswärtigen Amts wurde ein Arzt entsandt, schließlich gab es auch unter den Flüchtlingen einige Ärzte. Dennoch wurde die Lage kritisch, als eine Frau in die Wehen kam und sich herausstellte, dass niemand Geburtshilfe leisten konnte. Wir brachten die Frau endlich dazu, ihrem Transport in eine Klinik zuzustimmen. Von dort aus durfte sie dann wieder zurückkehren und konnte mit ihrem Baby über Berlin Schöneberg in die Bundesrepublik ausreisen, nachdem sie die Ausreise am 30. September mit einem der Züge versäumt hatte. RA Vogel organisierte diese unbürokratische Hilfe.

Als Vogel am 26. 9. wieder in die Botschaft kommt, um die Flüchtlinge mit erneut aufgebesserten Angeboten zur Rückkehr in die DDR zu bewegen, schlägt ihm eine Woge eisiger Feindseligkeit entgegen. Er wird teilweise regelrecht ausgepfiffen und merkt, dass sich die Situation in den vergangenen zwei Wochen grundlegend geändert hatte. Die Zahl derer, die sich zur Rückkehr überreden lassen, ist bei weitem geringer, als die Zahl der weiter zuströmenden Flüchtlinge, die jetzt bereits 1600 überschreitet. Bei uns steigt die Ratlosigkeit. Auch unter den Flüchtlingen zeigt sich wachsender Unmut, der sich in Protestaktionen verschiedener Art manifestiert. So rasierten sich alle Männer von Zelt 16 die Haare ab und bewiesen auf diese nicht gerade wirksame Art ihre Unzufriedenheit mit der Politik der tschechoslowakischen. Behörden.

Jedenfalls wirkten die Glatzköpfe recht martialisch, und als dann auch noch etwa 20 lange Brotmesser verschwunden waren, hielten einige meiner Mitarbeiter dies nicht mehr gerade für eine vertrauensbildende Maßnahme. Sie rieten mir ab, künftig allein und so oft wie bisher ins Zeltlager zu gehen, weil sie eine mögliche Geiselnahme befürchteten. Diesen Rat konnte ich natürlich nicht befolgen, denn gerade meine Besuche im Lager dienten ja der Aufrechterhaltung der Stimmung und auch als Blitzableiter für viele, die bei mir über die Verhältnisse in der DDR schimpfen, oder sich ganz einfach über ihre Zukunft in der Bundesrepublik unterhalten wollten. Dabei wurde immer wieder deutlich, wie erstaunt sie darüber waren, dass ein Botschafter mit ihnen wie ein normaler Mensch redete. So etwas, meinten sie, hätte es in ihrem Arbeiter- und Bauernstaat niemals gegeben. Die Brotmesser sammelten wir übrigens nach kurzer Zeit wieder ein. Einige hatten diese Messer einfach in der Überzeugung behalten, dass man so etwas immer mal brauchen könne eben, um Brot zu schneiden.

Mit steigender Zahl der Flüchtlinge war naturgemäß eine gewisse Anonymität eingetreten. Das persönliche Verhältnis, das wir zu den ersten Flüchtlingen noch hatten, ließ sich so nicht auf alle ausdehnen. Vorbei waren die Zeiten, wo man noch seinen Speisezettel in jedem Zelt bestimmte, Essen gab es nur noch aus der Feldküche, die Nächte wurden kälter, die Wartezeiten vor den 22 Toiletten wurden länger und die Schlafgelegenheiten wurden enger. Vor allem aber: es zeichnete sich noch immer keine Lösung ab. Es begann die Phase erfolgloser Versuche, ein Ausweichquartier unter diplomatischem Schutz von der tschechoslowakischen. Regierung zu erhalten. Ein Besuch von Staatssekretär Sudhoff bei seinem Counterpart im tschechoslowakischen. Außenministerium blieb ebenso erfolglos, wie alle übrigen Demarchen. Langsam wurde uns in der Botschaft klar, dass es nicht mehr darum gehe, wie wir verhindern konnten, dass die Botschaft überquelle, sondern dass gerade der durch den Zustrom der Flüchtlinge erzeugte Überdruck ein sehr viel größeres geschichtliches Rad in Bewegung setzen könnte. Mit anderen Worten: es ging nur darum, durchzuhalten.

Inzwischen hatte in New York am Rande der VN-Vollversammlung eine fieberhafte politische Aktivität eingesetzt. Außenminister Genscher gelingt es schließlich, vor allem mit Unterstützung des sowjetischen Außenministers Schewardnadse, eine Lösung für das Flüchtlingsdrama zu erreichen, der auch die DDR zustimmen kann.

In Prag wissen wir von all dem noch nichts. Bei uns steigt inzwischen die Zahl der Zufluchtsuchenden rapide weiter an. Schon sind sämtliche Stufen des großen Treppenhauses belegt. Jeweils zwei Personen schlafen auf einer Treppe.

Am 29. September erfährt unsere Delegation in New York, dass die DDR am 30. 9. einer Lösung entsprechend Genschers Vorschlag zustimmen will. Die Delegation fliegt noch am selben Tag zurück nach Bonn, kommt dort am 30. 9. um 8. 00 Uhr an und fliegt um 16. 00 Uhr weiter nach Prag. Jetzt erfahren auch wir, dass sich etwas bewegt. Ich hole den Minister am Flughafen ab. Um 18. 30 Uhr treffen wir in der Botschaft ein. Wir bahnen uns einen Weg in meine Wohnung im obersten Stockwerk. Um 18.58 betritt der Minister den Balkon des mit Stockbetten vollen Kuppelsaals.

Von dort spricht er zu den Flüchtlingen: „Liebe Landsleute, ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise in die Bundesrepublik

Deutschland bevorsteht.“

Der Jubel der ca. 4000 Menschen im Park ist unbeschreiblich. Genscher wird später seine Erinnerungen mit dem Satz beginnen: „Die Stunden in der deutschen Botschaft in Prag am 30. September 1989 gehören zu den bewegendsten meines Lebens.“

Wenig später beginnt bereits der Abzug der ersten Flüchtlinge zu den Bussen, die von der Botschaft der DDR bereitgestellt worden waren. Die Flüchtlinge sind überglücklich. Die Züge werden von hohen Beamten des Auswärtigen Amts, von Staatssekretär Priesnitz vom BMB und von Botschaftsangehörigen begleitet. Um 7. 00 Uhr morgens des nächsten Tages verlässt der letzte Zug Prag. Ich bin die ganze Nacht auf den verschiedenen Bahnsteigen. Um 8.00 Uhr lege ich mich schlafen. Schon lange weiß ich nicht mehr, was das eigentlich ist, Schlaf. Aber schon um 10.00 Uhr stehe ich wieder auf und schaue mir Hof, den Park, das Gebäude an. Eine gespenstische Stille liegt über dem infernalischen Chaos, das sich mir darbietet. Irgendwie fehlten mir die Flüchtlinge,- aber das ist sicher schwer zu verstehen. Es war vielleicht auch die innere Leere, die man nach all den Wochen der Anspannung fühlte. DRK-Helfer laden meine Frau und mich ein, im Hof mit ihnen eine Gulaschsuppe zu essen. Wir waren dankbar dafür. Sie hatten wohl unsere seelische Verfassung bemerkt.

Gegen Mittag hatten sich schon wieder an die 200 Menschen vor dem Tor der Botschaft versammelt und begehrten Einlass. Sie waren zu spät für die Ausreiseaktion gekommen. Nach Rücksprache mit dem AA versuchte ich ihnen klarzumachen, dass sich diese außergewöhnliche Ausreise wohl nicht wiederholen ließe. Gegen 17. 00 Uhr öffnete ich das Tor und die inzwischen 300 Menschen stürmten an mir vorbei in den Park. In Kürze hatten sie aus dem Chaos wieder ein ordentliches Zeltlager gemacht. Am Abend des nächsten Tages meldete ich bereits 1622 und am 3.10. 3800 bis 4000 Flüchtlinge.

Dieser zweite Akt des Dramas dauerte nur bis zum 4. Oktober, war in seinem Ablauf allerdings fast schwieriger zu handhaben, als die erste Welle. Die Flüchtlinge strömten von allen Seiten in die Botschaft. Wir konnten kaum mehr zählen. Als ich in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober die Weisung erhielt, die Botschaftspforte definitiv zu schließen, waren über 5000 Menschen in der Botschaft und im Park und über 2000 noch auf dem Vorplatz. Gegen 16.30 Uhr des 3. Oktober habe ich gegen den dringenden Rat der Ärzte beschlossen, das Tor noch einmal für Frauen und Kinder zu öffnen, da die Temperaturen inzwischen empfindlich gefallen waren. 600 Frauen und Kinder strömten daraufhin auf das völlig überfüllte Terrain. Ich musste sie im Heizungskeller unterbringen, dem einzigen verbliebenen Raum. Als die Ausreise dieser Menschen schließlich am 4. Oktober um 18.30 begann, waren die hygienischen Verhältnisse katastrophal geworden. Versorgung und Entsorgung waren kaum mehr möglich.

Dennoch: es war zu keinerlei Panik gekommen. Die Zusammenarbeit auch mit der Botschaft der DDR und den Sicherheitskräften der ČSSR war pragmatisch und effizient.

Die Weltpresse hat diese zweite Ausreiseaktion kaum zur Kenntnis genommen. Nach Abschluss dieser Aktion führte die DDR Visumspflicht für Reisen in die Tschechoslowakei ein. Der Flüchtlingsstrom war damit gestoppt. Es kamen nur noch wenige Personen über die grüne Grenze. Sie konnten am 28.10.89, versehen mit legalen Ausreisepapieren der DDR-Botschaft in Prag, in einem Bus und eigenen Fahrzeugen die Grenze zur Bundesrepublik überschreiten. Ich begleitete diesen Konvoi bis Waidhaus und fuhr dann mit meiner Frau weiter, in die vom Auswärtigen Amt genehmigte Fortsetzung meines Urlaubs vom August. Die Geschäfte der nunmehr leeren Botschaft übertrug ich meinem Ständigen Vertreter Dr. Armin Hiller.

Am 1. November 1989 hob die DDR den Visumszwang für Reisen in die ČSSR wieder auf. Sofort schwoll der Strom von Zufluchtsuchenden in der Botschaft wieder an und war schließlich kaum mehr zu kontrollieren. Schon am 3.11. nachmittags waren mehr als 5000 Personen auf dem Botschaftsgelände. Hiller versuchte, wie wir schon früher in Demarchen, wenigstens vorläufig eine sog. Turnhallenlösung durchzusetzen.

Dazu kam es nicht mehr. Man bedeutete ihm im Außenministerium, dass alle politischen Instanzen pausenlos tagten. Es gehe darum, gemeinsam mit Moskau und Pankow eine Linie in der Flüchtlingsfrage abzustimmen.

Um 21.00 Uhr des 3. November wurde er zu dem erbetenen Termin zum stellvertretenden Außenminister der ČSSR gerufen. Das Gespräch sowie sein Ergebnis waren kurz. Die Menschen in unserer Botschaft konnten direkt ohne Umweg von Prag in die Bundesrepublik ausreisen. Die Gesprächsatmosphäre - so Hiller später - sei eisig gewesen.

Noch in der selben Nacht verkündete er vom „Genscher Balkon“ aus diese unkonditionierte Ausreise-Entscheidung, nicht, ohne auf ihre historische Dimension hinzuweisen. Einige reisten sofort ab. Es genügten ihre DDR Personalausweise oder ein Pass zum Grenzübertritt. Eine spätere Wiedereinreise in die DDR war gewährleistet.

Während der nächsten Tage (bis zum 9. November 1989) reisten täglich zwischen 2000 und 4000 Personen aus. Der Schwerpunkt der Aufgaben der Botschaft lag nunmehr am Prager Hauptbahnhof.

Die am 3.11. verkündete und sofort in Kraft getretene Ausreiseregelung hatte rechtlich und politische eine fundamental neue Qualität. Wer die DDR verlassen wollte, stieg einfach in einen Zug nach Prag und wurde dort von Botschaftspersonal in bereitstehende Züge umdirigiert, die ihn unbelästigt in die Bundesrepublik brachten. Es gab also für DDR-Bürger keinen eisernen Vorhang und keine Mauer mehr. Es gab nur noch den Umweg über Prag.

Hans-Dietrich Genscher spricht in seinen Erinnerungen von dem Flüchtlingsstrom als einem politischen Urstrom, der von Prag, der europäischsten aller europäischen Städte seinen Ausgang genommen hat.

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